In der Marktwirtschaft ist der Erfolg das einzige Thema. Aber das Thema des Theaters ist der Misserfolg, die Krise, das Scheitern. Die Tragödie, die Katastrophe sind ehrwürdige dramatische Errungenschaften…
Solche Sätze enthalten nichts Neues und schildern nur den Normalfall der Theaterkunst nicht erst seit Beckett, sondern seit 2500 Jahren. Dass die darin enthaltene Behauptung heute überraschend oder besonders klingt, für manche auch gefährlich, hat vielleicht selbst etwas Tragisches und natürlich damit zu tun, dass das Theater zunehmend als ganz gewöhnliches Wirtschaftsunternehmen eingeordnet wird, das sich wie jedes andere Unternehmen unter Nutzensgesichtspunkten resp. nach Erfolgskriterien legitimieren muss. Und da ist dieses Tragödienbewusstsein natürlich kontraindiziert.
Das wurde vor nicht allzu langer Zeit selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika, der Nation der totalen Erfolgsfixierung, noch anders gesehen. Da konnte noch Mitte des letzten Jahrhunderts ein Mann, der die Tragödie liebte, zum bedeutendsten Dramatiker avancieren: Eugene O’Neil. Von ihm stammt das folgende Bekenntnis, das kaum zu dem Überwachungs- und Kontrollwahn passt, der uns heute aus Amerika entgegenschlägt:
„Ich habe die Eigenschaft, dass das Tragische in mir Frohlocken auslöst. Die Tragödie des Menschen ist vielleicht das einzig Bedeutende an ihm. Was ich erreichen möchte, ist, dass die Zuschauer, wenn sie das Theater verlassen, innerlich darüber jubeln, auf der Bühne jemand gesehen zu haben, der dem Leben gegenübertritt und mit seinen unlösbaren Widersprüchen kämpft, der nicht siegt, sondern unvermeidlich der Besiegte ist. Erst durch diesen Kampf gewinnt das Leben des Einzelnen seine Bedeutung, auch wenn er von Anfang an aussichtslos ist. Erst das Tragische macht unser Leben lebenswert. Ich bin der Überzeugung, dass jedes Leben, das man überhaupt Leben nennen kann, in der Anstrengung besteht, seine Träume zu verwirklichen. Je anspruchsvoller diese Träume sind, desto schwerer ist ihre Verwirklichung. Es gehört zu den Bedingungen unserer Existenz als Menschen, dass wir Träume haben. Ein verwirklichter Traum ist aber kein Traum mehr. Wer keine Träume mehr hat, ist so gut wie tot. Deshalb müssen unsere Träume immer größer sein, als das, was uns erreichbar ist. Denn unser einziger Gewinn liegt im Scheitern bei der Verwirklichung unserer Träume. Jeder, dessen Träume hochfliegend genug sind, ist zum Scheitern verurteilt und sollte dies als Bedingung ansehen dafür, dass er überhaupt am Leben ist. Wenn er auch nur einen Augenblick denkt, er habe gesiegt oder er sei am Ziel, ist es auch schon zu Ende mit ihm.“
Diese Vorstellung vom „American Dream“, deren Pointe in der zwar immer anzustrebenden aber nie endgültig gelingenden bzw. notwendig scheiternden Realisierung des Traums besteht, ist mir um einiges sympathischer als das einerseits geheimdienstliche und andrerseits der Sache nach planwirtschaftliche und totalitäre Modell, das heute, gestützt auf möglichst vollständige Datensammlungen über jeden einzelnen Menschen, das Scheitern und die Tragödie verhindern soll. Diese Versuche, Risiken im Geschäftsleben und überhaupt im Leben umfassend zu beseitigen, diese neuen, durch Algorithmen gestützten Wahrheitsfindungen, erinnern mich fatal an die planwirtschaftliche und totalitäre Vorstellung, Sicherheit und Glück berechnen und nach objektiven Kriterien planen und den Menschen überstülpen zu können. Langsam beginne ich zu glauben, was der aus Sankt Petersburg stammende Philosoph Boris Groys schon kurz nach der sogenannten Wende konstatierte: Die Sieger nehmen die Kultur der Besiegten an, nicht umgekehrt.
Abschottung der Grenzen in Europa und Amerika, Verhinderung von Freizügigkeit, flächendeckende Ausspähung und Überwachung, rechtsfreie Räume, Exekutionen ohne Prozess, das Verschwinden unabhängiger Medien, milliardenschwere geheime Sicherheitsdienste und Wirtschaftsstrategien, in der nicht mehr Waren im freien Markt nach Kunden suchen, sondern der Kunde selbst planmäßig, sozusagen ZK-gesteuert, zum Produkt wird. Solche Entwicklungen schienen vor der Wende ausschließlich Merkmale östlicher Diktaturen zu sein. Nun werden sie im Westen mit Hilfe der digitalen Möglichkeiten kopiert und perfektioniert und wir sollen wie früher die Genossen im Osten einfach vertrauen, dass die Regierung und die Konzerne bei ihren Aktivitäten nur das Beste für ihre Wähler und Kunden wollen, wie diktatorisch, demokratieverachtend und imperialistisch das im Einzelnen auch aussieht.
War es früher die Theorie des sog. Marxismus-Leninismus, der als wissenschaftliche Grundlage für die vermeintliche Massenbeglückung und -bevormundung galt, scheint es jetzt im Westen die von John Nash begründete Spieltheorie zu sein, eine mathematische Entscheidungstheorie, von deren Anwendung (nicht nur nach Frank Schirrmacher) heute in den USA weitgehend das politische und wirtschaftliche Handeln abhängen soll.
Mit Hilfe der Spieltheorie soll es möglich sein, wenn man eine vollständige Übersicht über die Daten hat, die optimalen Strategien und Entscheidungen bei allen möglichen Fragestellungen voraussagen zu können und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungssituation aller an dem jeweiligen Vorgang Beteiligten. Die Voraussagen sind allerdings laut Spieltheorie nur dann exakt, wenn alle Daten aller Beteiligten zur Verfügung stehen (was im Modell immer, im Leben aber selten oder nie der Fall ist). Darin liegt wohl auch der Grund für die „Sammelwut“ der Medienkonzerne und der NSA. Allerdings muss in der Spieltheorie bei solchen Entscheidungsprozessen vorher exakt festgelegt werden, was der Gewinn im Spiel sein soll. In der ökonomischen Spieltheorie ist dies der finanzielle Gewinn und in der evolutionären ist es die Reproduktion und Arterhaltung und bei der Nutzung öffentlicher Toiletten (ein beliebtes Thema der Spieltheoretiker) sind es geringe Wartezeiten und Sauberkeit. Die Spieltheorie kennt nur strategische Spiele, Gewinnspiele, und nur wenn Gewinn und Verlust klar definiert sind, lassen sich optimale Lösungen und Strategien mathematisch berechnen. Das soll funktionieren in kooperativen Entscheidungssituationen, wo alle Beteiligten alle Informationen haben, und auch in nichtkooperativen, wo die Informationen ungleich verteilt sind, was dann natürlich denen, die mehr Informationen haben, einen entscheidenden Vorteil bringt. Deshalb ist die Ausforschung umfassend und geheim und muss geheim bleiben, wenn man nicht auf seinen Vorteil verzichten will. Gewinn- und Vorteilsdenken sind gleichermaßen Voraussetzung und Resultat der Spieltheorie, und das verbindet diese mit der klassischen Ökonomie und auch mit dem wissenschaftlichen Sozialismus.
Mir kommt dieses Modell in seiner strategischen Ausrichtung altbekannt vor. Paradigmatisch für dieses Denken war z. B. bereits im Russland des späten 19. Jahrhunderts der Schriftsteller Nicolai Gawrilowitsch Tschernyschewski in seinem überaus erfolgreichen Buch „Was tun?“. Dieser Utopist wurde von Lenin bewundert für seine Vorstellung, man könne das Beste für die Menschen nach mathematischen Formeln bestimmen und dadurch die Tragödie des Menschen beenden. Ihm zu Ehren nannte er sein Hauptwerk ebenfalls „Was tun?“. Dostojewski veranlasste der gleiche Autor zu einer großen Polemik in seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“. Was er dort sarkastisch über Tschernyschewskis Zukunftsvision schrieb, scheint mir Satz für Satz auch auf die gegenwärtigen Versuche zu passen, die Welt durch die Anwendung der Spieltheorie (und anderer kybernetischer Konzepte) ein für allemal in den Griff zu bekommen:
„Dann wird die Wissenschaft selbst den Menschen belehren, dass er selbst nichts anderes sei als eine Art Klaviertaste oder Drehorgelstiftchen... und dass auf der Welt außerdem noch Naturgesetze vorhanden wären... Selbstverständlich werden dann alle menschlichen Handlungen nach diesen Gesetzen mathematisch in der Art der Logarithmentafeln bis 10 000 berechnet und in einen Kalender eingetragen. Oder, noch besser, es werden einige wohlgemeinte Bücher erscheinen, in denen dann alles so genau ausgerechnet und bezeichnet ist, dass auf der Welt hinfort weder Taten aus eigenem Antrieb noch Abenteuer mehr vorkommen werden. Dann also werden die neuen ökonomischen Verhältnisse beginnen; vollkommen ausgearbeitete und gleichfalls mit mathematischer Genauigkeit berechnete. Dann wird ein Kristallpalast gebaut werden, dann... Nun, mit einem Wort, dann wird der Märchenvogel angeflogen kommen.“
Dieser russische Märchenvogel scheint in der neusten Wende des amerikanischen Traums wieder lebendig geworden zu sein. Ein Rückfall, der das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen, markieren könnte. An die Stelle von Kontingenz und Freiheit und deren demokratischer Organisation treten exakte Berechnung und die Unterwerfung unter messbare, d.h. Rechner generierte Standards.
Es ist bestimmt kein Fehler, das, was Dostojewski vor 140 Jahren gegen das mathematische Vorteilsdenken Tschernykowskischer Provenienz geäußert hat, angesichts der neuen Entwicklungen wieder zur Kenntnis zu nehmen. In den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ formulierte Dostojewski vielleicht als erster (noch vor Nietzsche und Bataille), welche Art von Widerstand solche hypertrophen Optimierungsstrategien mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Scheitern bringt:
„Menschen können nur beweisen, dass sie keine Drehorgelstifte sind, wenn sie nicht tun, was man von ihnen erwartet, sondern etwas Unsinniges. Darin besteht ihre ganze Kraft“ (... ) Nach unserem eigenen uneingeschränkten und freien Wollen, nach unserer allerausgefallensten Laune zu leben – die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag? Das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt, und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen.“
Dostojewskis Mann im Kellerloch verweigert sich dem Optimierungsdenken und fordert stattdessen das Unsinnige, das Verrückte zu tun. Das Unwahrscheinliche, das sich jeder Berechnung entzieht.
Das, was hier gefordert wird, ist der Sache nach Aufgabe der Kunst. Kunst definiert sich durch die Unwahrscheinlichkeit ihres Entstehens (Luhmann.) Das scheinbar Unsinnige, das sich jedem vertrauten Zweckdenken entzieht, ist eine Bedingung jeder Kunstpraxis. Was durchsichtig ist und vollständig in unsern bestehenden Regelsystemen aufgeht, ist keine Kunst, höchstens Design, Kunstgewerbe, Sozialarbeit, Volksaufklärung... Teil des normalen Verwertungsprozesses und braucht keine Heterotopie. Wenn Kunst im Dienst einer Sache steht (wie edel auch immer), ist sie keine Kunst mehr.
Anders als die mathematische Entscheidungstheorie, die klare Gewinndefinitionen verlangt, ist Kunstproduktion nicht zielorientiert, sie kostet einen meistens viel mehr, als man damit verdient. Der Künstler kann etwas, das sich mit Nützlichkeits- und Vorteilserwägungen nicht beschreiben lässt. „Der Künstler kann das Nichtkönnen“, sagt deshalb Christoph Menke mit Nietzsche. Die Kunst entzieht sich rationaler Bewertung, weil sie sich keinen vorgängigen „Zielvereinbarungen“ unterwirft – das sollte sie gegen Algorithmen, die nach dem Willen der Datensammler und Spione unser Leben bestimmen sollen, resistent machen.
Der Unsinn und das Nutzlose, treiben vielerorts ihr Spiel, aber notwendig sind sie als Merkmale künstlerischer Prozesse, die heute als Bollwerk gegen die Berechenbarkeit der Menschen durch Markt- und Machtsysteme vielleicht lebenswichtig werden.
Aber Tragödie? Warum sollen die Künstler das Scheitern feiern und die Ausweglosigkeit, die vollständige Niederlage, die Tragik, die dem Versuch, dem Unheil zu entkommen, nachweist, dass er es gleichzeitig herbeiführt?
Wie man diese Frage beantwortet hängt davon ab, welches Bild man vom Theater und der Kunst hat. Sieht man das Theater als einen gewöhnlichen Teil der ausdifferenzierten Gesellschaft, dann ist es auch den gleichen Gesetzen und Kalkülen unterworfen, dann gelten auch im Theater Nutzens- und Vorteilsdenken und nicht dieser paradoxe „allervorteilhafteste Vorteil“, der nach Dostojewski gerade im Verzicht auf das Vorteilsdenken liegen soll.
Begreift man das Theater aber als Heterotopie (Michel Foucault, Rene Pollesch), muss es sich gerade dem, was in der Marktwirtschaft verfemt und gefürchtet ist, widmen. Und was fürchtet man in diesem Wirtschaftssystem am meisten? Die Pleite, das Scheitern und die Tragödie!
Zumindest in unserer Gesellschaft, die ausschließlich auf Gewinn und Erfolg programmiert ist, fürchtet man das Scheitern wie der Teufel das Weihwasser. Es ist aber trotzdem allgegenwärtig und es trifft am Ende jeden. Jeder scheitert, ausschließlich jeder, solange der Tod nicht abgeschafft ist. Diese antiutopische Gewissheit, dass am Ende jedes einzelnen Menschen, die Katastrophe des Verschwindens aus der Welt steht, der „Weltuntergang“ (Heiner Müller), muss eine Gesellschaft, der es ausschließlich um Gewinn und Erfolg geht, ignorieren. Sie kann im Theater nur, wenn es sich als Heterotopie begreift, reflektiert werden.
Das Glück der Tragödie
Die Tragödie unserer unvermeidlichen Sterblichkeit durch Kunst in ein glückhaftes Erleben zu transformieren, könnte insofern die entscheidende Aufgabe des Theaters sein. „Der verfemte Teil“ (Bataille) unserer Existenz, der genauso notwendig zu uns gehört, wie der offiziell akzeptierte erfolgsorientierte Teil, braucht einen öffentlichen Ort in der Gesellschaft: und der findet sich in der Kunst und speziell im Theater (oder eben auch nicht). Solange das Thema des Theaters das Scheitern ist, hat es sein Alleinstellungsmerkmal, denn kein gewöhnliches Unternehmen kann als Geschäftsziel das Scheitern haben, natürlich auch das Theater nicht, wenn wir es als Unternehmen betrachten, was es immer auch ist. Aber das Thema dieses Unternehmens ist das Scheitern (und nicht die Vermeidung des Scheiterns) und sein Produkt ist die erfolgreiche Darstellung des Misslingens und des tödlichen Ausgangs aller unserer Bemühungen -
Das Scheitern und das Sterben als individuelles Schicksal auf der Bühne so zu transformieren, dass es uns beglückt und uns ein Gefühl von Vollkommenheit und Ganzheit gibt, wenn auch nur im Spiel, wenn auch nur als Schein, das ist etwas, das der noch so durchrationalisierte Markt uns nicht bietet, dafür braucht es eine andere Logik und einen anderen Ort. Mitten in der Gesellschaft, von ihr finanziert, steht ein Ort, in dem die Uhren anders gehen, „zum Raum wird hier die Zeit“, wie es im Parsifal heißt. Dort herrschen keine lineare Logik und keine Realzeit, dort können die Wunden gezeigt werden, die sonst versteckt werden müssen.
Das Theater als Institution ist Teil der Gesellschaft so wie sie ist. Da gilt die normale gesellschaftliche Ordnung und ihre Vorschriften. Was aber auf der Bühne stattfindet (durch die Institution ermöglicht), folgt ästhetischen Gesetzen und konfrontiert uns mit dem, für das wir keine Lösung haben, und mit dem, für das es keine Lösung gibt. Das ist zumindest ein Traum vom Theater. Es soll den Widerspruch unserer Existenz zeigen, ohne ihn zu kitten. Es soll ihn bejahen. Das, was Menschen ausmacht, sagte Aischylos in einer der ersten Tragödien überhaupt, ist, dass sie ihr Grab selbst erobern müssen. „Erobert euer Grab!“ Diesen Schlachtruf kann kein Konzernchef in seine Marketingstrategien einbauen und nicht mal ein Politiker oder General, der mit Krieg droht. Aber ein Künstler kann ihn zum öffentlichen Leitmotiv seiner Arbeit machen (Einar Schleef). Wir brauchen diese andere Seite, geriete sie in Vergessenheit, gäbe es nichts Bedeutendes mehr an uns, würden wir uns nicht mehr von Dostojewskis Klaviertasten und Orgelstiftchen (auch wenn sie jetzt digital und 1000x komplexer aufgefasst werden) unterscheiden, oder - wenn man O’Neil glaubt, der sagt, wir sollen unser Scheitern als Bedingung dafür sehen, dass wir überhaupt am Leben sind - wir wären als Menschen gar nicht mehr vorhanden…
Man verdrängt das gerne, aber man weiß es. Deshalb freuen sich sogar Menschen, die gar nichts mit Theater zu tun haben, über das O’Neilsche Paradox: Only tragedies can make me happy.
Das Theater muss an die Stelle der katastrophischen (unfreien) Verschwendung in Kriegen und globalen alltäglichen Gewaltexzessen die gloriose Verschwendung, die freiwillige Investition in das Nutzlose und Tragische propagieren, wenn es sich legitimieren will. Das sozial Unverantwortliche und Indifferente, das, was jenseits der rationalen Lebensführung (die immer so tun muss, als lebten wir ewig) unser Dasein bestimmt, solche Dinge haben im Theater ihren Ort.
Die einen machen Gewinnspiele, strategische Spiele oder Zocken, das ist überall in der Gesellschaft der Fall, und die andern, wie O’Neil oder Dostojewski, sehen in der Kunst ihren einzigen Gewinn in der Beschäftigung mit dem Scheitern und dem Verlust, sie generieren zweckfreie Spiele in der dafür vorgesehenen Heterotopie, im „fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins“, wie Schiller das nannte, das „der ästhetische Bildungstrieb“ mitten in der Welt hervorbringt und „in dem der Mensch von allem was Zwang heißt, sei es im Physischen sei es im Moralischen, entbunden ist“. Diese Freiheit von allen physischen und moralischen Zwängen, gibt es nur im Tod und im Spiel der Kunst. Das Tragische ist, dass wir als Tote nichts von dieser Freiheit haben, und dass im Theater und in der Kunst diese Freiheit nur als ästhetischer Schein existiert, als Erfahrung einer Fiktion, die man als Fiktion weiß. Aber immerhin, wenigstens in den Scheinwelten der Kunst können wir den Tod überleben, wir können sehen und hören, wie uns Hören und Sehen vergeht. Und das ist ein Grund zur Freude. Hier können wir das feiern, was wir im Alltag bekämpfen müssen. Denn solange wir leben, kommen wir nicht aus dem Widerspruch heraus, dass wir nicht nur am Erfolg, sondern auch am Scheitern unserer Pläne und Träume arbeiten müssen, um weiter leben zu können.
Das Theater wird seiner Funktion nur gerecht, wenn es sich jeder gesellschaftlichen Funktionalität verweigert. Aber nur das nicht für soziale oder politische Zwecke instrumentalisierte Theater erfüllt seine Aufgabe in der Kunst und in der Gesellschaft. Kunst ist „Freiheit vom Sozialen im Sozialen“ (Christoph Menke). Einen solchen nicht instrumentellen Kunstbegriff gegen zweckrationale Zugriffe, und seien sie noch so gut gemeint und begründet, zu verteidigen, ist selbst eine eminent politische Aufgabe des Theaters. Und die verlangt Tragödienbewusstsein.
Statt einer Zusammenfassung:
„Selbstgefährdung und Zitat sind auf merkwürdige Weise miteinander verbunden. Die amerikanische Flagge zum Beispiel hat viel mit Pop zu tun. Wenn ich ganz ehrlich bin, gefällt sie mir – als ästhetisches Moment. Sie sieht gut aus. Gleichzeitig ist es wichtig zu zeigen, dass es auch sehr schön sein kann, wenn so eine Flagge brennt. Beides muss man mitdenken, um die Ambivalenz des amerikanischen Traums zu verstehen. Formuliert wird diese Ambivalenz von Tennessee Williams genauso wie von Eugene O’Neil. Beide leben im Bewusstsein der amerikanischen Tragödie und haben trotzdem immer für den amerikanischen Traum votiert. Deshalb ist es so wichtig, sich mit diesem Amerika zu beschäftigen, und es gerade auch mit den Augen des Amerikaners Tennessee Williams zu sehen. Dann kann man sich daran erinnern, dass nur ein streitbares Verhältnis zu dem, was man liebt, ein gutes Verhältnis ist."
(Frank Castorf, Mai 2003)